Reihe: Der Anderen Meinung
- Die Wahrheit liegt stets in der Mitte
Der Stand der medizinischen Versorgung ist hoch, noch höher sind allerdings die Gesundheitsaufwendungen, zumal der überwiegende Anteil von ihnen nichts zu dem genannten Standard beiträgt. Mit anderen Worten, ein großer Anteil der Gesundheitsaufwendungen wird ineffezient verpulvert. Rainer Logos berichtet nun in seinem Blog RL Recherchierte Lügen über eine Studie, nach der diese Effezienz ebenso für den Großteil der von den Ärzten erbrachten Leistungen gelte. Vielmehr täusche die Mehrheit der Ärzte bei ihren Leistungen einen Standard, den eine Minderheit von etwa 20 % ihrer Kollegen allein zu erbringen in der Lage sei, und zwar mit einem gewaltigen Kostenaufwand, nur vor - ein zu hoher Preis für das Placebo des weißen Rockes.
Ärzte: vorgetäuschte Versorgung
Überteuertes Placebo
Erhebliche Gesundheitsaufwendungen
Mehr
als zehn Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts, in Zahlen über 300
Milliarden Euro, also in etwa soviel wie der Bundeshaushalt, betragen die
gesamten jährlichen Gesundheitsaufwendungen. Betrachtet man die drastische
Zunahme der allgemeinen Lebenserwartung, scheint dieser Aufwand auch
gerechtfertigt zu sein. Die Menschen werden immer älter. Hundertjährige hat es
zwar schon immer gegeben, aber die Chance, dieses einmal als biblisch
angesehene Alter zu erreichen, erlangen immer mehr Menschen. Auf der anderen
Seite ist die Sterblichkeit von Neugeborenen und Kindern erheblich
zurückgegangen, eine Zahl die statistisch gesehen die Lebenserwartung seit je
stark negativ beeinflusst hat. Wer kann daher die Leistungsfähigkeit unserer
modernen Medizin und mehr noch die unserer modernen Ärzte vor diesem
Hintergrund in Zweifel ziehen? Niemand, möchte man meinen.
Große Leistungsdefizite bei Ärzten
Und
doch geschieht dies in der Effizienzstudie des interuniversitären Instituts für
Gesundheitsstruktur auf besonders dramatische Weise. Professor Titus Stromhagen
hat bei der Vorstellung der neuesten Untersuchung zum Wirkungsgrad
medizinischer Einrichtungen mit vernichtender Kritik am gesamten
Gesundheitswesen nicht gespart und dabei vor allem die Leistungsfähigkeit einer
Berufsgruppe, deren Ansehen in der ihre Leistungen in Anspruch nehmenden
Bevölkerung besonders hoch ist, mit der durchschnittlichen Note ungenügend
diskreditiert - die der Ärzte. In Deutschland sind ungefähr 350.000 Ärzte
beruflich tätig, davon etwa die Hälfte in Krankenhäusern. Nach der Studie liegt
dabei der Effizienzgrad im Sinne einer positiven Auswirkung auf die Gesundheit
der Bevölkerung günstigstenfalls für etwa 80 % von ihnen bei Null (die durch
ärztliche Tätigkeit verschlechterte Volksgesundheit war nicht Gegenstand der
Studie). Mit anderen Worten, nach Stromhagens Ergebnissen könne man auf etwa 80
% der Ärzte schlichtweg verzichten, ohne dass sich deren Ausfall negativ auf
die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung auswirken würde. Dies gelte ganz
besonders hinsichtlich der eingangs erwähnten gesundheitspolitischen Parameter
wie dem Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung. Dieser Umstand sei als solcher
schon seit langem bekannt, so die Tatsache, dass mehr als 75 % des
Gesamtaufwands für das Gesundheitswesen ohnehin keine der Gründe betreffen, die
für den genannten Anstieg der Lebenserwartung verantwortlich seien. Die Studie
habe, so Stromhagen, aber mehr und Deutlicheres an den Tag gebracht, dass
nämlich das, was für die Kosten gelte, auch für die Leistungseffzienz der Ärzte
zuträfe.
Diffuses Leistungsbild
Angesichts
dieser Feststellungen bemühte sich Stromhagen erst gar nicht, mit Spott zu
sparen, wie über den angeblichen Wirkungsgrad ärztlicher Diagnosen, wonach bei
einem humpelnden beinamputierten Patienten 97 % der beteiligten Ärzten mit dem
Verlust eines Gliedes die zutreffende Diagnose stellten. Auch sah er das an
sich mehr ironisch gemeinte Bild bestätigt, wonach ein Arzt im Durchschnitt bei
seiner Tätigkeit damit beschäftigt sei, 40 ihm bekannte Medikamente möglichst
passend auf die vor ihm erscheinenden Patienten zu verteilen, bei besseren
Ärzten seien es bis zu 80 Medikamente. Kämen dem Arzt bei dieser Zuteilung dann
doch Zweifel, weise er den Beschwerden einen psychosomatischen Ursprung zu.
Natürlich bediene sich der Arzt aller ihm erreichbarer Untersuchungsmethoden,
vor allem des Einsatzes in seiner Praxis vorhandener und in zweiter Linie auch
üblicher und von ihm erwarteter Untersuchungsverfahren, deren Ergebnisse aber
zumeist nur durch den Filter der bestehenden Beschränkung der von ihm
praktizierten Medikamentenverteilung wahrgenommen werden. Dabei wirkt sich eine
weitere festgestellte weitverbreitete Leseschwäche unter Ärzten aus, die ihnen
den Zugang über mehrere Absätze sich erstreckende schriftliche Darstellungen zu
verschließen scheint, was erst recht für mehrere Seiten umfassende Dokumente
gilt. Dies gilt selbst für zusammenfassende Laborergebnisse, zu deren Erhebung
im weiten Umfang sie zwar den Auftrag erteilen (was Bedeutung für den Umfang
der ärztlichen Vergütung hat), deren einzelne Daten aber nur insoweit überhaupt
wahrgenommen werden, wenn normabweichende Resultate als solche farblich oder in
einer ähnlich geeigneten grafisch auffälligen Weise auch kenntlich gemacht
seien. Daher sei es unter den Kollegen, die auf solche Untersuchungen
spezialisiert haben, wie etwa Laborärzte oder Röntgenologen, auch üblich,
Ergebnisse in nicht mehr als zwei oder drei Sätzen darzustellen, ungeachtet der
Komplexität der jeweiligen Untersuchung.
Kriterium: Diagnosesicherheit
Untersucht
wurden unter anderem die Diagnosesicherheit und die theoretische Wirksamkeit
angeordneter Therapien. Unter Diagnosesicherheit wird die Fähigkeit eines
Arztes beurteilt, anhand der von ihm feststellbaren Symptome zu einer Diagnose
mit der höchsten Wahrscheinlichkeit der Symptomverursachung zu gelangen. Schon
während des klinischen Studiums wird den angehenden Medizinern dabei die
Methode einer Differenzialdiagnose beigebracht, mithilfe derer dem
symptomatischen Bild mögliche Ursachen, also gemeinhin Krankheiten, zugeordnet
werden sollen. Die Effizienz dieses Verfahrens hängt von zweierlei ab, einmal
von einer möglichst vollständigen Erfassung der beim Patienten feststellbaren
Symptome, zum anderen von einem fundierten Wissen möglicher Ursachen, also der
praktischen und theoretischen Beherrschung des vom jeweiligen Arzt betreuten
Fachgebiets. Die Studie hat nun hinsichtlich beider Voraussetzungen gravierende
Missstände nachgewiesen, die bei bis zu 80 % der teilnehmenden Ärzte auftraten.
Bereits bei der Symptomerhebung fielen ein Großteil der Ärzte damit auf, dass
sie sich ihnen bietende Informationsquellen erst gar nicht auswerteten.
Besonders gravierend war das Übergehen von Schilderungen der Patienten über
ihre Beschwerden, die bis zu in 90 % der Fälle schon gar nicht wahrgenommen
wurden. Vielmehr schienen die beteiligten Ärzte überwiegend auf ganz bestimmte
Fragestellungen beschränkt zu sein, die ihnen vom vorneherein einen Blick für
die vorliegende besondere Symptomatik verstellten und zugleich bereits den
Anwendungsbereich möglicher differentialdiagnostischer Betrachtung entschieden
einschränkten. In vielen Fällen beschränkte sich die Symptomanalyse bei allen
untersuchten Patienten auf die Punkte Rauchen, Alkohol und Fettleibigkeit sowie
Bewegungsarmut. Eine Anamnese fiel mithin bei nichtrauchenden und
alkoholabstinenten schlanken Patienten schlichtweg aus. Diese Defizite setzten
sich im Umgang mit weiteren möglichen Informationen zur Symptomerfassung fort,
indem auffallend viele Untersuchungsergebnisse in ihrer Bedeutung für die von
dem Patienten beschriebenen Beschwerden nicht erkannt wurden, sondern durchweg
eine Ergebniswahrnehmung nur aufgrund stereotypisch verwandter Parameter
erfolgte. Die auf dieser erkenntnistheoretisch bereits erheblich reduzierten
Basis beginnende eigentliche differentialdiagnostische Leistung führte
schließlich in mehr als die Hälfte der Fälle zum vollkommenen Ausfall. Denn ein
Großteil der untersuchten Ärzte beschränkte ihre Diagnose auf eine bestimmte
und limitierte Anzahl von ihnen praktizierter Verfahren, und übergingen dabei
sogar bereits festgestellte Symptome, da sie nicht zu den angewandten
diagnostischen Stereotypen passten. Das heißt in der weitaus größten Anzahl
ging die Differentialdiagnose schlichtweg ins Leere. Dort, wo sie
symptomgerecht gestellt wurde, waren ihre Ergebnisse wiederum in einem
erschreckenden Maße von schlichter Unkenntnis des differentialdiagnostischen
Umfelds gekennzeichnet.
Kriterium: Theoretische Therapieeffizienz
Die
theoretische Wirksamkeit angeordneter Therapien befasst sich mit der
grundsätzlichen Möglichkeit einer verordneten Therapie, diagnostizierte
Fehlfunktionen zu beheben. Unberücksichtigt bleiben dabei reine
Placebo-Wirkungen. Dabei geht es nicht um eine pharmakologische Aussage zur
Wirkung eines bestimmten Medikaments, sondern einmal um die Beurteilung, ob
angesichts der festgestellten Umstände ein positive Wirkung der Maßnahme
überhaupt möglich ist und zum anderen darum, ob Informationen über eine solche
Wirkungseffizienz von dem Therapeuten nach seinem Verhalten erkannt werden
können. Auffallend war, dass Ärzte überwiegend auf solche Medikamente
zurückgriffen, deren breite bis oft unbestimmte weite WIrkungsweise bekannt
ist, wie etwa bei bestimmten Antibiotika. Je weniger ein solches Medikament
einer ganz bestimmten WIrkung zuzuordnen war, umso häufiger fand es in den
untersuchten Fällen Verwendung. Ein differenzierter diagnostischer Befund
führte in vielen Fällen nicht zu einer entsprechend differenzierten Verwendung
einzelner Medikamente, sondern es blieb in der Regel dabei, vieles über einen
Kamm zu scheren. Eine Wirksamkeitskontrolle verschriebener Therapien fand in
der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht statt. Nur in knapp 20 % der Therapien
wurden deren Anschlagen vom sie verordnenden Arzt auch nachgeprüft, im Übrigen
erfolgte eine Beurteilung nur dann, wenn der Patient wegen Fortbestands der
Beschwerden den Arzt von sich aus wiederaufsuchte. Aber selbst in diesen Fällen
wurden wiederum nur in weniger als die Hälfte aller Untersuchungen die bereits
erfolgte Therapie und mögliche Gründe ihres Scheiterns überprüft, in der
Mehrzahl der Fälle wurde aus der begrenzten Auswahl von Medikamenten ein
anderes verschrieben.
Von der Mehrheit vorgetäuschte Leistungseffizienz einer
Minderheit
Bei
der Vorstellung der Ergebnisse seiner Studie legte Stromhagen jedoch besonderen
Wert auf seine Feststellung, dass mit dieser negativen Beurteilung keineswegs
ärztliche Leistungen generell abgewertet werden würden. Denn Fortschritt und
Möglichkeiten medizinischer Therapierung bewegten sich sowohl nach ihrer
Diagnosesicherheit und ihrer Wirkungseffizienz (theoretische Wirksamkeit
angeordneter Therapien) als auch den anderen Kriterien nach nach wie vor auf
einem sehr hohen Niveau. Dieses Niveau werde aber nicht durch die Tätigkeit der
ganz großen Mehrheit der Ärzte begründet, sondern ausschließlich von einer
kleinen Gruppe von nicht mehr als 20 % von ihnen. Das Besondere bestehe aber
nun gerade darin, dass sich die öffentlichen Wahrnehmung nahezu ausschließlich
auf die Tätigkeit und Erfolge dieser Minderheit beziehe. Die große Mehrheit der
Ärzte folgt einer hierdurch begründeten Erwartung insoweit, als sie bei ihrer
Leistungserbringung vorgibt, zu entsprechenden gleichen Leistungen ebenfalls in
der Lage zu sein. Hierauf beruhen die geschilderten Diskrepanzen. Denn in
Wirklichkeit täuscht die Mehrheit die Qualität der Leistungen der Minderheit
nur vor.
Teure Placebowirkung des weißen Rocks
Im
Ergebnis stellt Stromhagen fest, dass das, was hinsichtlich der Kostenstruktur
schon seit langem bekannt sei, ebenfalls für die Leistungsstruktur gelte, dass
nämlich nicht mehr als 25 % des finanziellen oder persönlichen Aufwands zur
Aufrechterhaltung und Verbesserung der Volksgesundheit beitrügen und damit auch
erforderlichen seien. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 10 % des
Bruttosozialprodukts für den Gesundheitsbereich aufgewendet werden, sollte
diese Feststellung endgültig Anlass zum Nachdenken über eine tiefgreifende
Änderung dieses Bereichs geben. Es ist dabei ohnehin zu erwarten, dass sich mit
dem Vordringen der Digitalisierung auch im Gesundheitswesen ohnehin automatisch
eine zuverlässigere Erfassung der für die Diagnose erheblichen Symptomatik
eines Patienten einstellen wird und im zweiten Schrift damit nicht nur die
Basis für eine Diagnose sondern auch die Bandbreite möglicher Diagnosen ( im
Wege der Differentialdiagnose) wesentlich und vor allem auch zuverlässiger
erweitert werden wird. Auf den mit diesen Hilfsmitteln umgehenden Arzt wird
aber man aber niemals verzichten können, indessen auf jene, die betriebsblind
nach eingefahrenen Stereotypen in die Kiste ihnen bekannter Remeduren nur
greifen und im Übrigen auf die Placebowirkung ihres weißen Rockes vertrauen.